Textatelier
BLOG vom: 12.06.2014

Einhalten, Neuorientieren: Pause, Moment, der verändert

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
 
Der Sturm, der am Dienstagabend, 10.06.2014, übers Land fegte, ist einem strahlend blauen Himmel gewichen. Ich sitze vor der geöffneten Terrassentür und höre den Vögeln zu. Die Amsel flötet ihre Melodie, wenige Sekunden. Sie hält ein und beginnt aufs Neue mit einer Variante der vorherigen Strophe. Ohne die Pause dazwischen würde sich der Gesang anders anhören. Ja, der unablässige Ruf des Kuckucks kann mir manchmal ziemlich auf die Nerven gehen. Mein Gemüt braucht die Pause zwischendurch.
 
In der Natur gibt es viele solcher Momente. Die Ruhe vor dem Sonnenaufgang, wenn alle Vögel schweigen, bevor es hell wird. Die Sekunden der vollkommenen Stille im Wald. Der Gesang des Rotkehlchens mit den Pausen, in denen ich Zeit habe, über den Vogel nachzudenken. Die absolute Stille vor dem Sturm gestern Abend, kein Vogel war zu hören, der Wind war nicht zu spüren, die Natur bereitete sich auf den Tobsuchtsanfall vor, auf den Wind, der den Regen und Hagel vor sich her peitschte, auf die Blitze und die schnell darauf folgenden Donner. Ein kurzes Innehalten, eine Unterbrechung des gewohnten Ablaufes. Danach wieder ein Moment der Ruhe, des Ausatmens.
 
Einmal tief durchatmen. Still in sich hineinhorchen.
 
Arthur Schnabel (1882–1951), ein österreichischer Pianist und Komponist, erklärte einmal Reportern, die ihn nach dem Geheimnis seines Erfolgs fragten:
 
Ich glaube nicht, dass ich mit den Noten wesentlich anders umgehe als andere Pianisten. Aber die Pausen zwischen den Noten – ja, darin liegt die Kunst.“
 
So richtig habe ich die Bedeutung der Pausen bei Glenn Gould erkannt. 1955 spielte er die „Goldberg Variationen“ von Johann Sebastian Bach in 38 Minuten und 34 Sekunden, 1981 in 51 Minuten und 18 Sekunden. Ich mag beide Aufnahmen, jedoch die Aufnahme von 1981 am gefällt mir besser; für mich ist der Moment der Pausen zwischen den Noten das, was die Faszination dieser Interpretation ausmacht. Ich bin nicht der Einzige, der das so empfindet.
 
Die kanadische Schriftstellerin Marianne Paul schrieb 2009:
 
„I’m not a musician, don’t understand the intricacies of notes and how they are put together, not even a little bit, but even so, Gould’s playing of Goldberg Variations gets me in the middle of my chest every time. The pauses, how the notes hang there, how the space between the notes hang there. Perfectly placed, almost an aching.“
 
Ich kann das gut nachvollziehen.
 
Die Länge der Pause ist nicht wichtig. In der Musik kann sie winzig klein sein, der Länge einer 1/32-Note entsprechen. Und doch ist es ein „Anhalten“.
 
Gute Redner machen zwischen ihren Gedankengängen Pausen. Sie helfen, das gerade Gehörte noch einmal zu überdenken, aber auch eine Spannung aufzubauen, die fragt, wie es weiter geht. Die Aufmerksamkeit des Publikums wird neu geweckt.
 
In der Kunst spielt die Pause eine wichtige Rolle. Wir sprechen von einer „künstlerischen Pause“, wenn ein Maler, Schriftsteller oder sonst wer, eine Zeitlang nicht in Erscheinung tritt. Künstler warten auf den Impuls, auf neue Ideen, auf die Eingebung für ein neues Thema.
 
Meine erste Erinnerung an die Pause ist die Erinnerung an die Glocke, mit der die Pause zwischen den Unterrichtsstunden eingeläutet wurde. Dann begann sie. Sie war meist kein Aufatmen, vielleicht, weil man nun doch nicht mehr an die Tafel gerufen worden war, sondern ein Wechsel der Tätigkeiten, von der Aufmerksamkeit, die man dem Unterrichtsablauf schenken musste, dem Lesen und Schreiben hin zum Rennen auf dem Schulhof, zu den Spielen, die erlaubt waren, zu Gesprächen mit Mitschülern. Bis die Glocke wieder ertönte und alle sich sammelten, um wieder in die Klassenzimmer zu gehen.
 
Pause als Veränderung, Unterbrechung und am Ende des Schultages Beendigung des Unterrichts und Wechsel zu einer anderen Tätigkeit. Ist der Eintritt in das Rentenalter, in den Genuss eines bedingungslosen Einkommens auch eine Pause?
 
Es ist eine. Es ist ein Einhalten, eine Neuorientierung, ein Sich-Einfinden in einen anderen Lebensrhythmus. Und wie auf dem Schulplatz, dem Pausenhof, ergibt sich eine andere Beschäftigung.
 
So gibt es im Leben in jeder Lebenslage Pausen. Manchmal werden sie uns durch plötzliche Veränderungen aufgedrängt, ein Abbruch von Beziehungen, der Tod eines Nahestehenden, der Verlust des Arbeitsplatzes erzwingen ein Innehalten, die bange Frage, wie es denn weitergeht. Manchmal sind sie auch erwünscht und ersehnt, das Paar zieht in eine gemeinsame Wohnung, die Geburt eines Kindes, der Urlaub oder eben das Ende der Lebensarbeitszeit.
 
Und immer bewirken Pausen etwas im Menschen. Neue, bisher nicht aufgekommene Gedankengänge, Hoffnungen, neue Pläne, Ausblicke. Oder nur die ganz kurze Spannung zwischen 2 Takten, im Ablauf des Tags.
 
Quelle
 
 
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